Wir sind nicht unsere Gedanken – weder die hellen noch die dunklen

Wir denken, doch sind wir nicht unsere Gedanken.
Wir haben einen Körper, doch sind wir nicht dieser Körper.
Wir haben Gefühle, doch sind wir nicht diese Gefühle.

Als du ein Kind warst, wie sah deine Form aus? Als du im Bauch deiner Mutter warst, wie war deine Form? Als du in den Geschlechtszellen deiner Eltern warst, wie war deine Form? Wenn man dir ein Bild zeigen würde, könntest du die Eizelle im Bauch deiner Mutter erkennen? Wärest du imstande, sie wieder zu erkennen und zu sagen: »Das da bin ich«? Nein. Aber irgendwann musst du damit angefangen haben, dich mit diesem Ei zu identifizieren … Dann wurdest du geboren – und wenn man dir deinen ersten Schrei vorführen würde, wenn man dir eine Aufnahme davon vorspielen könnte, wärest du imstande, ihn wieder zu erkennen und zu sagen: »Das ist mein Schrei«? Nein. Aber es war deiner, und du musst damit identifiziert gewesen sein.
Wenn man einem Sterbenden ein Album mit seinen Fotos zeigen würde … Die Form hat sich ständig verändert – da ist etwas Kontinuierliches, aber gleichzeitig findet in jedem Augenblick Veränderung statt. Der Körper verändert sich vollständig alle sieben Jahre, total. Nichts bleibt gleich, nicht eine einzige Zelle. Und trotzdem denken wir: »Das ist meine Form, das bin ich.« Doch das Bewusstsein ist formlos. Die Form ist nur etwas Äußerliches, das sich immer und immer und immer wieder ändert, genau wie die Kleider. Diese Identifikation ist Ego. Wenn du mit gar nichts identifiziert bist – weder mit deinem Namen noch mit deiner Form noch mit sonst etwas – wo bleibt dann das Ego? Dann existierst du und gleichzeitig existierst du nicht. Dann existierst du in deiner absoluten Reinheit, aber ohne Ego. Darum hat Buddha das Selbst »Nicht-Selbst«, Anatta oder Anatma, genannt. Er sagte: »Da ist gar kein Ego, darum kannst du dich selbst nicht einmal Atma nennen. Du kannst dich nicht >Ich< nennen, weil da gar kein >Ich< ist. Da ist nur reines Sein.« Und dieses reine Sein ist Freiheit. (34)

Manchmal, wenn dunkle Seiten in mir hochkommen, macht mir das richtig Angst. Dann fällt es mir sehr schwer zu akzeptieren, dass es nur der Gegenpol zu meinen hellen Seiten ist. Ich fühle mich schmutzig und schuldig und nichtswürdig. Ich möchte mir aber alle Facetten meiner Gedanken anschauen und sie akzeptieren, denn oft höre ich dich sagen, dass das Akzeptieren die Voraussetzung ist, wenn man das Denken transzendieren will.
Kannst du bitte etwas über das Akzeptieren sagen?

Das Wichtigste, was es zu verstehen gilt, ist, dass du nicht deine Gedanken bist – weder die hellen noch die dunklen. Wenn du dich mit den schönen Seiten identifizierst, ist es unmöglich, dich von den hässlichen Seiten zu distanzieren. Es sind die zwei Seiten der gleichen Medaille. Du kannst sie ganz haben oder ganz wegwerfen, aber du kannst sie nicht teilen.
Die ganze Angst des Menschen rührt daher, dass er sich nur das aussuchen möchte, was schön und hell erscheint. Er möchte all die silbernen Wolkenränder haben, aber die dunklen Wolken auslassen. Nur weiß er nicht, dass es keine silbernen Ränder ohne dunkle Wolken geben kann. Die dunkle Wolke ist der Hintergrund – absolut notwendig, damit sich der Silberrand abheben kann. Wählen ist Angst. Wählen heißt dir das Leben schwer machen.
Wahlfrei bleiben heißt: Die Gedanken sind da und sie haben eine dunkle und eine helle Seite – na und? Aber was hat was mit dir zu tun? Warum solltest du dir Gedanken machen? Sobald du nicht wählst, verschwindet alle Sorge. Ein großes Akzeptieren stellt sich ein, dass das Denken nun einmal so beschaffen ist, dass dies die Natur des Denkens ist – aber das ist nicht dein Problem, weil du das Denken nicht bist. Wärest du das Denken, dann gäbe es das Problem überhaupt nicht. Denn wer sollte dann wählen und wer ans Transzendieren denken? Und wer sollte es dann akzeptieren wollen und das Akzeptieren verstehen wollen?
Du bist davon getrennt, absolut getrennt.
Du bist nur ein Zeuge und sonst gar nichts.
Ein Beobachter – der sich leider mit allem identifiziert, was er als angenehm empfindet, und vergisst, dass das Unangenehme ihm auf dem Fuße folgt wie ein Schatten. Über die angenehme Seite machst du dir keine Sorgen – über die jubelst du. Die Sorgen kommen erst, wenn der polare Gegensatz sein Recht fordert – dann zerreißt es dich in Stücke. Dabei hast du dir das selber eingebrockt. Du bist von der Warte des Beobachters heruntergefallen und hast dich identifiziert.
Die biblische Geschichte vom Sündenfall ist nur ein Märchen, aber das hier ist der wirkliche Sündenfall: der Absturz aus dem Zeugesein in das Identifiziertsein mit etwas, der Verlust deiner Position als Beobachter.
Versuche es gelegentlich: Lass die Gedanken einfach sein, wie sie sind, und erinnere dich: Du bist das nicht. Du wirst eine große Überraschung erleben. Je weniger identifiziert du bist, desto weniger mächtig werden die Gedanken, denn sie beziehen ihre Macht aus deiner Identifikation. Sie saugen dir das Blut aus. Aber wenn du einfach ungerührt und unbeteiligt daneben stehst, fangen die Gedanken an zu schrumpfen.

An dem Tag, da du absolut unidentifiziert bist mit deinen Gedanken, und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick, findet die Offenbarung statt: Der Verstand gibt seinen Geist auf. Er ist nicht mehr da. Er, der so voll war, so kontinuierlich da – tagein, tagaus, im Wachen wie im Schlafen war er da gewesen – und plötzlich ist er nicht mehr da! Du schaust dich überall um und da ist Leere, da ist nichts. Und mit dem Verstand verschwindet das Selbst. Dann ist nur noch eine bestimmte Qualität von Bewusstheit da, ohne ein Ich darin. Allenfalls könnte man von einem »Bin-Gefühl« sprechen, aber nicht von einem »Ich-Gefühl«. Um noch genauer zu sein, ist es ein »Ist-Gefühl«, denn selbst beim »Bin-Gefühl« ist noch ein Schatten von »Ich« vorhanden. Im gleichen Augenblick, da du diese Istheit erkennst, ist sie bereits universell.
Mit dem Verschwinden des Verstandes verschwindet auch das Selbst. Und damit verschwinden so viele Dinge, die dir wichtig waren und dir so viele Probleme bereitet haben. Du hast ständig versucht, sie zu lösen, doch sie wurden immer komplizierter. Alles war ein Problem und eine Sorge und es schien keinen Ausweg zu geben.

Ich erinnere euch an die Geschichte:

Die Gans ist draußen!
Sie hat mit dem Verstand und eurer Istheit zu tun.
Der Zen-Meister gibt dem Schüler auf, über ein Koan7 zu meditieren:
Eine kleine Gans wird in eine Flasche gesteckt und darin gefüttert und gemästet. Die Gans wird immer größer und größer und füllt bald die ganze Flasche aus. Jetzt ist sie zu groß, sie passt nicht mehr durch den Flaschenhals, der Flaschenhals ist zu eng. Und das Koan lautet:
»Wie kannst du die Gans aus der Flasche rausholen, ohne die Flasche kaputtzumachen und ohne die Gans zu töten?«
Nun, da kommt der Verstand nicht mehr mit. Was soll man machen? Die Gans ist zu groß; du kannst sie nicht rausholen, ohne die Flasche zu zerbrechen. Aber das darf nicht sein. Oder du kannst sie rausholen, indem du sie tötest, aber dann ist es dir egal, ob sie lebend oder tot rauskommt. Auch das darf nicht sein.
Tagein, tagaus meditiert der Schüler, aber so sehr er die eine oder die andere Möglichkeit abwägt, er findet keinen Weg – und tatsächlich gibt es keinen Weg. Er ist müde und völlig erschöpft – da kommt ihm plötzlich die Offenbarung.
Plötzlich begreift er, dass es dem Meister gar nicht um die Flasche oder die Gans gehen kann; er muss etwas anderes meinen! Die Flasche ist der Verstand und du bist die Gans … und wenn du nur Zeuge bleibst, ist es möglich. Auch wenn du gar nicht im Verstand drinsteckst, kannst du dich dennoch so mit ihm identifizieren, dass du anfängst zu glauben,
dass du drin bist!
Er rennt zum Meister, um zu sagen, dass die Gans raus ist. Und der Meister sagt: »Du hast es begriffen. Jetzt lass sie draußen! Sie war nie drin!«
Wenn du immerzu mit der Gans und der Flasche kämpfst, gibt es keine Möglichkeit für dich, die Sache zu lösen. Erst die Erkenntnis, dass etwas anderes damit gemeint sein muss, sonst würde der Meister es dir nicht zur Aufgabe machen… Aber was kann das sein? Denn die ganze Funktion von Meister und Schüler, ihr ganzes Thema, dreht sich doch um Verstand und Bewusstheit!

Auszug aus Osho
– Das Buch vom Ego – Von der Illusion des Ich´s zur Freiheit des Seins
ISBN 3-453-16253-6